Antirassismus? „Wir haben in unserer Gesellschaft noch ein großes Potenzial“
Bildnachweis: Initiative „Haltung zeigen – Vielfalt stärken“
Nach dem rechtsextremen und rassistischen Anschlag von Hanau am 19. Februar 2020 formierte sich im Rahmen des Bundesprogramms „Menschen stärken Menschen“ die Initiative „Haltung zeigen – Vielfalt stärken“. Ihr Ziel ist es, die Auseinandersetzung mit den Themen Diskriminierung und Rassismus in Patenschaftsprogrammen zu fördern. Ein Gespräch über Erfahrungen und Tipps für veränderungswillige Organisationen mit drei Frauen, die das Projekt ins Leben gerufen haben und vorantreiben.
Die Initiative „Haltung zeigen – Vielfalt stärken“ ist seit März 2021 ein Projekt im Rahmen von „Menschen stärken Menschen“. Den Anstoß dazu hast du, Ayten, nach dem rassistischen Terroranschlag in Hanau im Frühjahr 2020 gegeben, bei dem neun Menschen ermordet wurden. Was war damals dein Impuls?
Ayten Kılıçarslan (Vorstandsvorsitzende, Sozialdienst muslimischer Frauen): Das waren emotionale Zeiten. Wir vom Sozialdienst muslimischer Frauen (SmF) gehören ja auch zur gefährdeten Gruppe – unsere Mitarbeitenden ebenso wie unsere Pat:innen und Mentees. Wir haben das als Angriff auf uns und auf die Demokratie verstanden.
Erst seit 1990 werden rechtsextreme Gewalttaten in Deutschland systematisch erfasst. Mehr als 200 Menschen wurden in den letzten 30 Jahren aus diesen Beweggründen hierzulande ermordet.
Ayten: Der Anschlag in Hanau kam nicht plötzlich, sondern ist Teil der Terrorakte, die seit Jahrzehnten immer wieder stattfinden. Hinzu kommen andere Gewalttaten, Bedrohungen und Menschenrechtsverletzungen gravierender Art. Wir sind im Alltag immer wieder damit konfrontiert. Nach Hanau haben einige unserer Projektstandorte, die im Rahmen von „Menschen stärken Menschen“ gefördert werden, Schmähbriefe bekommen. Mitarbeitenden wurden Autoreifen zerstochen und in der Zeit des hohen Zuzugs von geflüchteten Menschen nach Deutschland wurde am Hauseingang einer Kollegin, die sich politisch für Geflüchtete starkmachte, ein Feuer gelegt. Das alles hat Auswirkungen auf uns.
Wie habt ihr dann die Initiative gestartet?
Ayten: Nachdem uns Mitarbeiterinnen der Standorte vom SmF nach dem Hanau-Anschlag zurückmeldeten, dass sowohl die Zielgruppe als auch sie Angst haben, haben wir zwei E-Mails in den Trägerkreis von „Menschen stärken Menschen“ geschrieben und um Solidarität gebeten. Bei „Menschen stärken Menschen“ arbeiten wir ja überwiegend mit gefährdeten Zielgruppen. Uns war wichtig, dass wir zeigen: Wir begleiten diese Menschen nicht nur im Rahmen des Programms und wollen durch Tandems ihr Leben bereichern, sondern stehen solidarisch füreinander ein und sehen dem Problem Rassismus und Diskriminierung ins Auge – auch innerhalb unserer eigenen Organisationen.
Der Start eurer Initiative fiel in den Beginn der Corona-Zeit im Frühjahr 2020. Wie ging es weiter?
Ayten: Auf unsere E-Mails haben einige direkt persönlich reagiert und ihre Solidarität bekundet. Das hat uns Mut gemacht. Als Vertreterinnen von vier „Menschen stärken Menschen“-Trägerorganisationen haben wir uns dann fast jede Woche online getroffen und überlegt: Was wollen wir machen und wie machen wir es? Eine der ersten Ideen war, einen Fragebogen für die Trägerorganisationen zu entwerfen, um erst einmal auf den Ist-Zustand zu schauen. Dabei ging es uns vor allem um die Haltung.
Und? Wie steht es dort um den Bedarf an Sensibilisierung in puncto Rassismus und Diskriminierung?
Teresa Rodenfels (Vorstandsvorsitzende, Start with a Friend e.V.): Die Ergebnisse aus der ersten Befragung lassen sich so zusammenfassen: Es ist eine erhöhte Sensibilität vorhanden – das ist ja schon daraus erklärbar, dass wir in einem Programm zusammenarbeiten, das Patenschaften für geflüchtete Menschen vermittelt, um deren Teilhabe zu fördern. Aber an einzelnen Fragen und Strukturen wurde deutlich, dass Strategien nicht bewusst sind. Und dass es auch so ist: Wir sind alle gegen Rassismus. Aber was heißt das eigentlich konkret? Und wo sind rassistische Strukturen vielleicht auch unterschwellig wirksam?
Sanga Lenz (Projektleitung Initiative „Haltung zeigen – Vielfalt stärken“, Sozialdienst muslimischer Frauen): Ich möchte hinzufügen, dass es auf keinen Fall ein Vorwurf an die Programme und Engagierten beinhaltet. Es ist einfach so, dass es in unserer deutschen Gesellschaft Rassismus und Diskriminierung gibt, das wird als „normal“ angesehen. Das hat mit der Geschichte zu tun. Patenschaftsprogramme und das Feld von Engagement und Ehrenamt sind ein Spiegel und Teil der Gesellschaft. Deshalb wirken auch dort unbewusst und alltäglich Rassismus und Diskriminierung. Um das zu ändern, braucht es einen gesamtgesellschaftlichen Wandel und eine Bewusstwerdung. Mit unserem Projekt wollen wir diesen Haltungswandel vorantreiben.
Wie habt ihr mit den Befragungsergebnissen weitergearbeitet?
Teresa: Wir haben zwei Bedarfe identifiziert: Erstens geht es darum, Rassismus und Diskriminierung konkret sichtbar und bewusst zu machen. Zweitens müssen Werkzeuge entwickelt und vermittelt werden, wie man damit umgehen kann. Darauf aufbauend haben wir ein Schulungsangebot geplant.
Ziel eures Projekts war dann zunächst die Sensibilisierung von leitenden und koordinierenden Mitarbeitenden der Trägerorganisationen des Bundesprogramms „Menschen stärken Menschen“ für die Themen Rassismus und Diskriminierung. Ihr wollt dazu anregen, die eigene Haltung, das eigene Verhalten und Denkmuster zu reflektieren und wirksame Strategien gegen Rassismus und Diskriminierung zu finden. 2021 habt ihr eine Reihe von Workshops durchgeführt – das Herzstück eures Projekts. Worum ging es dabei?
Teresa und Sanga: Der Ansatz war ein dreigliedriger: Es ging einerseits um das Kognitive, also darum, Wissen zu erwerben, zum Beispiel über die deutsche und europäische Kolonialgeschichte und die damals entstandenen „Rassentheorien“, die dem Rassismus die theoretische Grundlage lieferten und ihn heute noch begründen. Dann um die emotional-affektive Ebene – wie bin ich als Person in unserer Gesellschaft positioniert? Was macht das eigentlich mit mir? Also vom Abstrakten zum Persönlichen, kritische Selbstreflexion. Und schließlich um die strukturelle Ebene: Welche Prozesse braucht es in Organisationen, damit ein diversitätssensibles, gleichberechtigtes Zusammenarbeiten gefördert wird, insbesondere in einem Programm, in dem die Zielgruppe benachteiligte gesellschaftliche Gruppen sind? Wir haben uns mit verschiedenen Formen von Rassismus und mit Definitionen beschäftigt und mit dem 4-I-Modell, das die ideologische, institutionelle, interpersonelle und internalisierte Ebene umfasst.
Kam während der Workshops für euch Überraschendes zutage?
Ayten: Ich hatte damit gerechnet, dass die Teilnehmenden viel mehr Wissen über Rassismus und Kolonialismus und deren Auswirkungen in Deutschland mitbringen. Überraschenderweise gab es doch Bedarf, darüber zu sprechen. Wir sind gut in den Austausch gekommen. Das fand ich wertvoll.
Sanga: Die Workshops zeigten, wie wenig Kolonialismus und die strukturelle Verbindung zu Rassismus und Diskriminierung an der Schule gelehrt wird und wie groß der Aufholbedarf ist, inhaltliche Brücken zu schlagen zu unserer Denkweise heute.
Könnt ihr Tipps geben, wie Projektträger und Teilnehmende von Patenschaftsprogrammen Rassismus vermeiden und eine Kultur der Wertschätzung von Vielfalt befördern? Welche Handlungsstrategien sollten Organisationen verfolgen?
Sanga: Mir fällt dazu ein Satz ein: „You have to do the work.“ Man kommt nicht darum herum, sich grundsätzlich mit Rassismus und Diskriminierung auseinanderzusetzen. Ich kann nachvollziehen – und mir geht es natürlich genauso – dass man konkrete Tipps haben möchte, Anleitungen. Aber es funktioniert nur halb, wenn man nicht durch diesen Prozess der Auseinandersetzung und Sensibilisierung geht. Ich muss bei mir selber anfangen, bevor ich jemand anderem vermitteln kann, worauf es ankommt.
Ayten: Je nach Träger kann es ganz unterschiedliche Prioritäten geben. Migrant:innenorganisationen können zum Beispiel der Meinung sein, dass sie bei dem Thema auf einem anderen Level anfangen. Viele Fragen und Bedarfe betreffen den Praxisbereich. Es gibt sehr viele Fortbildungsangebote zu Antirassismus und Antidiskriminierung, aber im Patenschaftsbereich fehlen spezielle Angebote. Da ist zum Beispiel die Frage: Wie können wir unsere Mentees und Pat:innen schützen? Beim SmF haben wir überwiegend Pat:innen, die selber von Rassismus und Diskriminierung betroffen sind. Dadurch können sie bei ihren Mentees besser eine Brückenfunktion oder eine moderierende und unterstützende Rolle übernehmen. Die Organisationen müssen ihre Entscheidungen selber treffen, aber sie können sich dabei Unterstützung suchen. Ein Praxisbezug ist auf jeden Fall wichtig und ebenso, dass die Organisationsentwicklungsebene einbezogen wird.
Teresa: Eine Organisation antirassistisch und diversitätssensibel zu gestalten, ist ein ähnlicher Prozess wie beim Gender-Mainstreaming. Am Ende geht es um eine Reflexion der Machtstrukturen, die gesellschaftlich vorhanden sind und sich natürlich auch in den Organisationen wiederfinden. Es betrifft verschiedene Ebenen – von der Personalbesetzung über die Art und Weise, wie in der Organisation miteinander umgegangen wird, ob es eine inklusive und familienfreundliche Arbeitsumgebung gibt, wie Projekte gestaltet werden und wie die Kommunikationskultur ist.
Kannst du Material oder Hilfestellungen für Organisationen empfehlen, die diversitätssensibler werden möchten?
Teresa: Wir haben mit dem diversitätsorientierten Organisationsentwicklungsansatz von der RAA Berlin (https://raa-berlin.de) gearbeitet, sowohl bei SwaF als auch im Projekt „Initiative Haltung zeigen – Vielfalt stärken“. Und mit den Materialien von DeutschPlus (www.deutsch-plus.de). Da gibt es zum Beispiel einen Vielfaltscheck. Ein ganz zentraler Hebel – ich nenne drei – ist, dass Projektstellen mit Vertreter:innen der Zielgruppen besetzt werden, insbesondere mit denjenigen, die von Benachteiligung betroffen sind, und dass hier eine Vielfaltsförderung stattfindet.
Kannst du ein Beispiel aus eurer Arbeit geben?
Teresa: Bei SwaF arbeiten wir im Kontext Einwanderungsgesellschaft, wir richten uns an eingewanderte Menschen. Diese Perspektive muss in der Organisation in verantwortungsvollen Rollen repräsentiert sein, einerseits für die Menschen, die wir erreichen wollen, andererseits für die Art und Weise, wie wir Projekte gestalten. Ein weiterer Hebel: dass Projekte in Zusammenarbeit auf Augenhöhe mit denjenigen gestaltet werden, denen sie zugutekommen sollen. Nicht nur in Form von Ehrenamtspauschalen, sondern mit angemessener Bezahlung.
Und Hebel Nummer drei?
Teresa: Die Kommunikationskultur. Wir haben bei SwaF in allen Arbeitskreisen und auch mit dem gesamten Team je einmal pro Quartal eine Supervision zum Thema Antidiskriminierung und Antirassismus, weil es nicht so leicht ist, darüber zu sprechen. Das ist superhilfreich, um das Thema zu normalisieren. Man bekommt dabei auch sehr viel geschenkt – einerseits die Möglichkeit der Selbstreflexion, andererseits ein verstärktes Miteinander und offen über Konflikte reden zu können, die Ungleichheiten, Ungerechtigkeiten betreffen. Das bestärkt und empowert.
Wie blickt ihr für die Initiative „Haltung zeigen – Vielfalt stärken“ auf das Jahr 2021 zurück?
Ayten: Ich finde, wir haben etwas Einmaliges geschafft: dass die Träger von „Menschen stärken Menschen“ nicht nur im Rahmen eines Fachaustauschs über das Programm sprechen, sondern gezielt zu einem bestimmten Thema zusammenarbeiten. Das finde ich sehr wertvoll. Ebenso wertvoll finde ich, dass die Menschen, die sich daran beteiligen, Antirassismus und Antidiskriminierung als wichtige Aufgabe verstehen und sich einbringen. Das gilt für die vier Organisationen in der Steuerungsgruppe – BürgerStiftung Hamburg, ROCK YOUR LIFE!, Sozialdienst muslimischer Frauen und Start with a Friend – und alle, die dazugekommen sind und in den Workshops dabei waren! Dahinter steckt ein ganz großes Engagement. Als Mensch, der migrantisch oder muslimisch gelesen wird, bin ich sehr stolz darauf. Ich finde, das ist auch ein Zeichen dafür, dass wir in unserer Gesellschaft ein ganz großes Potenzial haben. Menschen, die sich zusammengefunden haben für ein Ideal – das finde ich toll!
Wo steht ihr jetzt, Ende 2021, und wie geht es mit eurem Projekt weiter?
Ayten: Meiner Ansicht nach befinden wir uns in dem Prozess, den wir begonnen haben, auf einer Skala von 1 bis 10 zwischen 1 und 2. Wir haben begonnen mit der Haltung und auf der Trägerebene von „Menschen stärken Menschen“. In Zukunft geht es darum, die Haltung in die Basis hineinzutragen und von der Haltung zur Handlung überzuleiten. Wir müssen auch auf der Organisationsentwicklungsebene viel mehr Anreize geben. Eine weitere Aufgabe parallel wird es sein, die Antidiskriminierungsarbeit, die in Deutschland leider in den Kinderschuhen steckt, voranzutreiben. Wir haben ein strukturelles Problem, nämlich, dass es in vielen Städten und Kommunen keine Antidiskriminierungsstellen gibt. Viele Menschen wissen gar nicht, wo Hilfe zu holen ist. All das erfordert weitere Schritte. Wir haben noch ein paar Jahre zu tun.
Mehr Informationen zu dem Projekt findet ihr hier.
Ayten, Sanga, Teresa, vielen Dank für das Gespräch und viel Erfolg für eure Vorhaben!
Interview: Benita v. Behr
Initiative „Haltung zeigen – Vielfalt stärken„
Projektträgerschaft: Sozialdienst muslimischer Frauen e.V.
Steuerungsgruppe: BürgerStiftung Hamburg, ROCK YOUR LIFE! gGmbH, Sozialdienst muslimischer Frauen e.V. und Start with a Friend e.V.
Ziel: Auseinandersetzung mit den Themen Diskriminierung und Rassismus und die Stärkung einer diversitätssensibleren Praxis im Bundesprogramm „Menschen stärken Menschen“
Mit dem Bundesprogramm „Menschen stärken Menschen“ fördert das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend seit 2016 bürgerschaftliches Engagement in Form von Pat:innenschaften bundesweit in 25 zivilgesellschaftlichen Organisationen.
Links:
Projektwebsite: www.haltung-zeigen.org
Interview mit Sanga und Teresa im Rahmen der Digitalen Tandem Tour der Stiftung Bürgermut, August 2021