Loslassen können: Offenheit ist eine Chance

Kennen die “Älteren” unter uns noch diese Situation aus einem scheinbar anderen Zeitalter? Der Chef einer Belegschaft, die aus einigen Handvoll Angestellten besteht, guckt morgens immer in die Post (Briefe) der Angestellten. Er verfolgt dabei zwei Ziele: a) er will sich (ja nur) einen Überblick über die Arbeitssituationen verschaffen (nur so kann er steuern) und b) er will eigentlich aber Informationen auf seinem Schreibtisch anhäufen, mit denen er seine Machtspielchen auf dem Rücken der Belegschaft durchführen kann. Da erschien es nur logisch und konsequent, dass der Umfang der Leitz-Ordner, in denen Informationen (nicht Wissen) für alle Zeiten gesammelt wurde, im Chef-Zimmer am größten war. Die Belegschaft fand dieses Verhalten – damals vor 20 Jahren – durchaus normal. Der- oder diejenige, die den Laden steuerte, musste ja auch die entsprechend breite Informationsbasis besitzen, um die sach- und machtpolitisch richtigen Entscheidungen zu treffen – so das damalige Verständnis von „Führung“. Es war zudem ein nicht hinterfragtes ungeschriebenes Gesetz.

Die Zeiten haben sich geändert, aber die Verhaltensweisen kommen nicht unbedingt im gleichen Ausmaß hinterher. Es ist vollkommen egal, in welche Institutionen man hineinschaut: Universitäten, Unternehmen, Parteien. Nach wie vor herrscht häufig das Grundverständnis, dass Informationsvorsprung (nicht Wissen) dazu dient, „bessere“ Entscheidungen zu treffen. Gunter Dueck hat dies gerade erst in seinem tollen Vortrag auf der re:publica 13 den Pflicht-Schuld-Wertekreis genannt. Der- oder diejenige (Gender ist vollkommen irrelevant) kommt am weitesten, der das System der Abwägung von Pflichten und Schuld gegenüber dem System am besten beherrscht. Also der oder die, die am besten in das System hineinpassen. Hierarchien, Ämter, Privilegien, „die-da-oben“ und „die-da-unten“ sind die Kennzeichen dieser Logik, so Dueck.

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Die Bindung an den Pflicht-Schuld-Wertekreis in unserer Gesellschaft beinhaltet aber zugleich Angst vor eruptiven Veränderungen. Um so schlimmer noch, wenn diese zudem auch noch durch technologische Unterstützung in Gang gesetzt werden können. Aus meiner Sicht ist dies das Haupthindernis beim Erreichen eines freien Informationsaustauschs: Während Informationen in diesem tradierten System bisher dem Macht- und Strukturerhalt dienten, ist Information in Zeiten des Internets die größte Gefahr für tradierte Macht. Die Informationen können Strukturen, Prozesse und Institutionen in Frage stellen. Informationen zu haben bedeutet, den gegenwärtigen Zustand selbst beschreiben zu können, mit all seinen positiven wie auch negativen Eigenschaften und Position zu beziehen, indem ein besserer Zustand, eine bessere Idee, ein besserer Beschluss, ein besseres Produkt als realistische Alternative formuliert werden könnte.

Worin liegt die Lösung? Sollten Entscheider zur Stabilisierung des gegenwärtigen Zustandes lieber Informationen “einsperren”, schwer zugänglich machen, ihre Verbreitung behindern? Das Problem dieser Lösung bestünde schnell darin, dass die Menschen, die bereits das Netz intensiv nutzen, kollektiv wüssten: Kein Zustand kann so optimal sein, dass er nicht noch veränderbar oder verbesserungswürdig wäre! Nicht umsonst gibt es das Beta-Paradigma in der Netzwelt. Zudem ist die ständige evolutionäre Weiterentwicklung der technischen Tools gleich einer evolutionsbiologischen Dynamik fähig, auf Einschränkungen und Regulierungen stets ausweichend zu reagieren. Hindernisse sind dazu da, mit neuen technologischen Entwicklungen umgangen zu werden. Es ist eine Grundeigenschaft des Menschen, Hindernisse zu umgehen. Damit zeigt sich das Netz zutiefst menschlich. Wer sagt, diese Debatte drehe sich nur um Technik, hat die soziale Implikation der Technik nicht im Blick.

Die Lösung besteht damit meiner Meinung nach in einem freien Internet und dem freien Zugang zu Informationen. Nur so können Systeme stetig verbessert UND Missstände in Wirtschaft, Politik oder Gesellschaft aufgedeckt werden. Die Herausforderung für die in diesem Prozess etwas Schnelleren besteht gewiss darin, den Menschen die Angst vor Austausch, Kritik und Infragestellen zu nehmen. Arbeit 2.0 mit einem offenen Informationsaustausch ist weniger eine technische als vielmehr eine kulturelle Herausforderung, es geht um nicht weniger als einen Kulturwandel oder eine Veränderung der Haltung. Loslassen bedeutet Kontrollverlust – in der Regel für Einzelne. Das ist ein nicht offen ausgesprochenes Hauptargument der Abwehrenden. Umgekehrt aber macht es Sinn (und bringt einen Mehrwert für Viele): Erst das Loslassen, der Kontrollverlust und das Aufbrechen zu neuen Horizonten ermöglicht die persönliche wie auch die institutionelle Weiterentwicklung, die verhindert, dass Unternehmen, Parteien oder Institutionen irgendwann in der Bedeutungslosigkeit versinken, während dynamische Systeme an diesen vorbeiziehen.  

Ein solcher Kulturwandel kann nicht verordnet werden. Ein solcher Kulturwandel kann im besten Fall nur vorgelebt werden. Mein persönlicher Tipp: Sind Sie Entscheider, dann geben Sie den offenen und innovativen Menschen in Ihren Institutionen und Teams kleine Freiräume, innerhalb derer diese Menschen geschützt vor den bekannten Sanktionen bei Systemabweichungen neue Methoden ausprobieren können. Es wird sich hausintern in Ihrem positiven Sinne herumsprechen, wenn diese Menschen mit leuchtenden Augen begeistert von neuen Erfahrungen in ihrem Zuständigkeitsbereich erzählen. Freie Informationen ist damit keine Gleichmacherei, jeder behält seine angestammte (wenngleich vielleicht neu definierte) Rolle. Es geht um die Abkehr von der Abgrenzung, Angst und Abwehr und die Zuwendung zur Team-Arbeit, Offenheit für Neues und die Wiederentdeckung der Neugier, einer Neugier, die damals vor 20 Jahre keinen Tag überlebt hätte. Heute aber eine Chance auf Überleben verdient hat. Und wenn diese überlebt, überleben auch Sie. Und das Unternehmen, die Partei oder die Institution, in der Sie wirken. Das sollte letztlich auch im Interesse der Nicht-Entscheider liegen. Die Win-Win-Situation für alle Beteiligten liegt auf der Hand.

 

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