Obdachlose Migranten auffangen – Projekt „Barka“ verbreitet sich in Europa

Das polnische Sozialunternehmen „Barka“ betreibt ein landesweites Netzwerk von autarken Bauernhöfen, Ausbildungseinrichtungen, Sozialbauprojekten und Sozialgenossenschaften über das ehemals ausgegrenzte Menschen in die Gesellschaft integriert werden. Inzwischen kümmert sich das Unternehmen in diverse EU-Länder um die Reintegration obdachloser Migranten.

 

Der postkommunistische Transformationsprozess stellte das polnische Sozialsystem vor enorme Herausforderungen. Die Zahl von Menschen, die in der neuen Marktrealität aufgrund krimineller Vergangenheit, gesundheitlichen Problemen oder schwierigen Familienverhältnissen den gesellschaftlichen Anschluss verloren und obdachlos wurden, stieg rasant. Gleichzeitig erwiesen sich traditionelle Gegenmaßnahmen wie Essensausgabe oder Obdachlosenhostels als wenig nachhaltig. Die Sozialdienste bestätigten ihr Scheitern, als sie eine beachtliche Gruppe von Obdachlosen (1995 ca. 50.000 Menschen) offiziell als „unreformierbar“ abstempelten.

Dieser Umstand spornte das Psychologen-Ehepaar Tomasz und Barbara Sadowski zum Handeln an. 1989 übernahmen sie einen verfallenen Bauernhof bei Posen, renovierten ihn mithilfe von 25 „unreformierbaren“ Obdachlosen und entwickelten ihn zu einem autarken landwirtschaftlichen Betrieb. Die Einwohner arbeiteten in der Getreideproduktion und bei der Tierzucht und wurden Teil einer Gemeinschaft, in der Entscheidungen gemeinsam diskutiert und gefällt wurden. Ein Teil der Erträge kam durch Investitionen auch den umliegenden Dorfgemeinschaften zugute, die rasch ihre Abneigung gegenüber den Einwohnern aufgaben. Die Kombination aus harter Arbeit und menschlicher Interaktion erwies sich als hoch wirksam: Die Mehrheit der „unreformierbaren“ Einwohner fand ihren Weg zurück in die Gesellschaft.

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Foto: Thinkstock

Aus dieser ersten „Barka-Gemeinschaft“ wurde allmählich das „Barka-System“. In den folgenden Jahren entstand neben weiteren Gemeinschaften ein regelrechtes Ökosystem zur nachhaltigen Reintegration von ausgeschlossenen und obdachlosen Menschen. Ein Netzwerk von Ausbildungseinrichtungen (basierend auf dem dänischen Kofoed-Modell) bietet die Möglichkeit, eine berufliche Qualifikation zu erlangen. Sozialgenossenschaften (basierend auf Modellen aus Italien) bieten Arbeitsplätze, beispielsweise in der Bio-Landwirtschaft, im Verkauf von Second-Hand-Kleidung oder Recycling. Zusätzlich ermöglichen Sozialbauprojekte auch ärmeren Menschen ein würdiges Wohnen. Nach dem EU-Beitritt Polens kam ein neuer Baustein zur Reintegration von Migranten hinzu.

Nationale Skalierung

Das Ehepaar Sadowski gründete und verwaltete die einzelnen Systembausteine (d. h. Gemeinschaften, Ausbildungszentren und Sozialgenossenschaften) im Sinne von Modellprojekten zunächst selbst. Nachdem sich die Wirksamkeit des Ansatzes herumgesprochen hatte, wurden die Gründer von Verantwortungsträgern (meistens Lokalverwaltungen) angesprochen, das System (mit finanzieller Unterstützung der lokalen Behörden und internationaler Geldgeber) auch in anderen Regionen zu verbreiten.

Mit der Zeit entwickelte sich ein Franchising-System mit einem Netzwerk rechtlich unabhängiger Organisationen, die nach gemeinsamen Prinzipien arbeiten. Die Mitgliedsorganisationen werden zumeist von so genannten „Leaders“ geleitet: Menschen, die dank des „Barka-Systems“ selbst den Weg in die Gesellschaft zurückfanden. Der „Leader“-Ansatz ist Teil des Systems und drückt nicht nur Wertschätzung gegenüber Ehemaligen aus, sondern hat auch praktische Konsequenzen: So entstehen vertrauensbasierte Franchise-Beziehungen, die ohne ausgebaute vertragliche Kodifizierung auskommen.

Im Jahr 2003 entstand eine Dachorganisation, die die gemeinsame Aktivität des Netzwerks koordiniert, Mitarbeiter schult und rechtliche und organisatorische Beratung anbietet. Mitglieder zahlen lediglich symbolische Beiträge, Hauptfinanzierungsquelle sind Projektmittel aus EU-Fonds. Insgesamt besteht das Netzwerk gegenwärtig aus 40 Gemeinschaften, 70 Ausbildungseinrichtungen und 20 Sozialgenossenschaften, die pro Jahr ca. 5000 Menschen pro Jahr unterstützen.

Transnationale Skalierung

Der polnische EU-Beitritt führte zu einem drastischen Anstieg der Arbeitsmigration in „alte“ EU-Länder. Allein im Jahr 2007 verließen knapp 2,3 Mio. Polen das Land, hauptsächlich, um in Großbritannien, Deutschland, Irland und den Niederlanden zu arbeiten. Obwohl die Mehrheit der Migranten einen Arbeitsplatz fand, endeten manche Fälle mit einer harten Landung: Ausnutzung durch kriminelle Gruppen oder gesundheitliche Probleme führten zu Arbeits- und Obdachlosigkeit, zugleich verhinderten aber Schamgefühle die Rückkehr ins Heimatland.

Die Behörden der Zielländer waren ratlos. Bei „hartem“ Vorgehen wie der Räumung von Schlafstätten wechselten die Obdachlosen den Stadtteil. Bei „weicherem“ Vorgehen wie der Verteilung von Rückkehrtickets kamen die polnischen Migranten wieder in die neue Heimat zurück, weil ihre sozialen Kontakte Zuhauseoft nicht mehr bestanden.

Daraufhin kontaktierten im Jahr 2006 zwei Londoner Gemeindeverwaltungen und zwei NGOs „Barka“. Gemeinsam mit den britischen Partnern entwickelte das polnische Sozialunternehmen ein Konzept zur nachhaltigen Reintegration von obdachlosen osteuropäischen Migranten.

Kern des Konzepts ist die Arbeit von Streetworker-Teams. Diese bestehen jeweils aus einem Sozialarbeiter und einem „Leader“, der dank seiner eigenen Erfahrung glaubwürdig vermitteln kann, dass ein Ausweg aus Obdachlosigkeit möglich ist und so das Vertrauen seiner Gesprächspartner auf der Straße gewinnt.

Sobald die Streetworker das Vertrauen der Obdachlosen gewonnen haben, werden diese in ein „Barka“-Zentrum vor Ort eingeladen, wo sie ein individuelles Angebot erhalten. Diejenigen, die im jeweiligen Land bleiben wollen und in einigermaßen guter Verfassung sind, bekommen ein Coaching-Angebot und könnenerneut auf Arbeitssuche gehen. Andere, die in das Heimatland zurückkehren wollen, werden an das „Barka“-System in Polen (bzw. Partnerorganisationen in anderen osteuropäischen Ländern) vermittelt. Darin liegt die Nachhaltigkeit des Konzepts: Obdachlose Migranten werden nicht „abgeschoben“, sondern erhalten eine greifbare Perspektive in Form einer Integration in die Gesellschaft. Von 2007-2013 entschieden sich insgesamt 2730 Obdachlose für eine solche Rückkehr, 80% davon waren Polen.

Inzwischen wurde dieses Modell in die Niederlande und Irland sowie punktuell nach Hamburg übertragen. Eine Vereinbarung mit einem belgischen Partner steht unmittelbar vor dem Abschluss. Der Skalierungsprozess verlief in allen Fällen ähnlich. Im Zentrum standen lokale Behörden der Zielländer. Sie gingen (ggfs. zusammen mit lokalen NGOs) auf „Barka“ zu und besuchten das Projekt in London sowie die Einrichtungen in Polen. Danach stellten sie (ggfs. in Zusammenarbeit mit weiteren Trägern wie lokalen Stiftungen oder polnischen Behörden) eine Anschubfinanzierung für die ersten Monate zur Verfügung. Anschließend übernahmen sie die langfristigen Kosten des Projekts.

Eine dermaßen starke Abhängigkeit von staatlicher Finanzierung hat allerdings auch eine Kehrseite. So steht zurzeit der Fortbestand der Londoner „Barka“-Niederlassung infrage, weil die politische Unterstützung für Migranten bröckelt und die Ausstattung öffentlicher Haushalte sank. So strichen vor wenigen Monaten 12 der ursprünglich 14 beteiligten Gemeinden ihre Finanzierung für das Projekt.

Eine höhere Finanzierung hingegenbekamen zwei britische NGOs, die behaupteten, „Barkas“ Ansatz kopieren und billiger anbieten zu können. Obwohl „Barka“-Mitarbeiter argumentieren, dass die Konkurrenten eine weniger nachhaltige Lösung anbieten, weil sie statt reintegrierter „Leader“ herkömmliche Sozialarbeiter einsetzen und dadurch die Verzahnung zwischen der Aktivität in London und dem „Barka“-System in Polen nicht herstellen können, konnten sie es nicht verhindern, dass der Fortbestand in Großbritannien infrage steht.

Learnings

Das Beispiel „Barkas“ zeigt die Fähigkeit von Sozialunternehmen, gravierende gesellschaftliche Probleme systemisch zu bekämpfen, und dies gerade in Feldern, wo bisher die meisten Ansätze scheiterten. Anstatt sich auf einen Teilaspekt der gesellschaftlichen Exklusion zu fokussieren, schufen die Gründer ein verzahntes Ökosystem zur nachhaltigen Adressierung dieses Problems.

In ihrer nationalen Skalierungsstrategie verfolgten die Gründer von Anfang an das Ziel, aus dem Kreis der wieder integrierten Menschen künftige Führungskräfte („Leaders“) aufzubauen. Dies ermöglichte ihnen, ein vertrauensbasiertes Franchising-Modell zu schaffen, das ohne Verträge auskommt, aber dennoch gemeinsame Prinzipien durchsetzen kann. Das Beispiel des Wiedereingliederungsprojekts für Migranten zeigt auch, dass der „Leader“-Ansatz bei diversen neuen Bausteinen des Systems zum Einsatz kommt, was zukünftigen Innovationen zugutekommen könnte.

In der transnationalen Skalierung richtete sich „Barka“ nach der Nachfrage vor Ort und baute auf eine enge Zusammenarbeit mit lokalen Behörden. Das Londoner Beispiel zeigt allerdings die Gefahren eines homogenen Partner-/Finanzierungsmix in einem kompetitiven Umfeld. Vermutlich könnte eine unabhängige Evaluierung die besondere Wirksamkeit des Ansatzes dokumentieren und gute Argumente für den Umgang mit Behörden liefern. Zugleich könnte eine umfassende Umfeldanalyse helfen, weitere Gefahren, aber auch Chancen zu identifizieren. Insgesamt verdient diese Skalierungsidee dennoch Hochachtung und ihr ist weiteres Wachstum im Rahmen des „Barka-Systems“ zu wünschen.

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